Erfüllt leben

Angenommen, jemand gibt Ihnen einen Füllfederhalter. Sie wissen noch gar nicht so recht, was Sie damit anfangen sollen. Sie können auch nicht erkennen, wieviel Tinte darin ist. Vielleicht trocknet er gleich nach den ersten paar Worten aus, die Sie versuchsweise schreiben. Oder aber er hält lange genug durch, um ein Meisterwerk zu schaffen, das für immer bestehen bleibt und mit dem Sie einen Unterschied machen. Sie wissen es nicht im Voraus.

Das ist Ihre Chance! Sicher, Sie müssen nichts tun. Anstatt den Füller aufzunehmen und ihn zu benutzen, können Sie ihn auch auf dem Tisch liegen lassen oder unbenutzt in eine Schublade stecken.

Aber wenn Sie sich dazu entscheiden, den Füller zu benutzen, was wollen Sie mit ihm machen? Wollen Sie erstmal ausgiebig planen, bevor Sie auch nur ein einziges Wort schreiben? Wären Ihre Pläne so umfassend und ausschweifend, dass Sie gar nicht zum Schreiben kämen?

Oder würden Sie den Füller beherzt in die Hand nehmen, mutig mitten hinein springen und einfach loslegen, sich neugierig darauf einlassen, wie Sie mit dem Strom der Worte zurecht kommen, die sich wie Sturzbäche aus Ihnen heraus ergießen und Sie dahin führen, wo Sie noch nie zuvor waren?

Hätten Sie die Ausdauer, weiterzuschreiben, obwohl Sie gar nicht wissen, wie lange die Tinte reicht? Und in welche Hand würden Sie den Füller nehmen? Würden Sie mit der Hand schreiben, mit der Sie es gewohnt sind, oder würden Sie auch einmal die andere ausprobieren?

Würden Sie vorsichtig und sorgsam schreiben, so, als könnte der Füller im nächsten Moment austrocknen? Oder würden Sie vortäuschen oder glauben (oder vortäuschen, zu glauben), dass der Füller ewig hält und Sie entsprechend weit damit kommen? Würde die Tinte zaghaft und mit Unterbrechungen aus Ihrem Füller herauströpfeln, oder würde sie mühelos und mitreißend aus dem Füller herausfließen?

Würden Sie schreiben, um sich selbst zufrieden zu stellen? Oder andere? Oder sich selbst, indem Sie für andere schreiben? Wäre Ihre Schrift zitternd und zurückhaltend oder außergewöhnlich und ausdrucksstark? Phantasievoll mit Schnörkeln oder einfach und klar?

Würden Sie überhaupt damit schreiben? Wenn Sie den Füllfederhalter einmal haben, gibt Ihnen ja niemand vor, dass Sie damit zu schreiben haben. Würden Sie vielleicht eher etwas damit skizzieren? Oder zeichnen? Oder kritzeln? Würden Sie in der Reihe oder auf der Linie bleiben, oder würden Sie gar keine Linien wahrnehmen, auch wenn da welche wären? Sind da welche?

Nun, angenommen, jemand gäbe Ihnen ein Leben...

Ralf M. Hiltmann